Chemnitz/Johanngeorgenstadt. Forscherinnen und Forscher der TU Chemnitz und der Friedrich-Schiller-Universität Jena gehen lokalen Erinnerungskulturen und den Umgang mit Verlusterfahrungen am ehemaligen Wismut-Standort im Erzgebirge auf den Grund
Zwischen 1950 und 1970 verschwanden in Sachsen und Thüringen mehrere Orte von der Landkarte. Sie mussten dem Uranbergbau der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft „Wismut“ weichen. Neben einigen Orten in Thüringen wurden beispielsweise in Oberschlema im Erzgebirge zwischen 1952 und 1957 circa 1.700 Einwohner wegen Bergschäden umgesiedelt. Besonders hart traf es jedoch die sächsische Kleinstadt Johanngeorgenstadt. Kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg von Glaubensflüchtlingen nahe der böhmischen Grenze gegründet, wurde die Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg für kurze Zeit zu einem Zentrum des sowjetischen Uranbergbaus. Unter der Maxime „Erz für den Frieden“ wurde dort im großen Stil Uranerz gefördert, das der Herstellung sowjetischer Atomwaffen diente. Die Einwohnerzahl stieg zunächst von circa 7.000 im Jahr 1946 auf über 40.000 Mitte der 1950er Jahre. Zwischen 1951 und 1957 wurden 4.000 Einwohner aus der Altstadt in die neu errichtete Neustadt umgesiedelt – off iziell wegen Bergschäden. Die Stadt verlor damit ihren historischen Stadtkern und trat nicht zuletzt mit dem Ende des Wismut-Bergbaus im Jahr 1958 in eine lange Zeit des demographischen Niedergangs ein. Im Jahr 1976 lebten dort noch etwa 10.000 Menschen, im Jahr 2000 waren es 6.300 und heute nur noch rund 3.800.
Im gemeinsamen Forschungsprojekt „Johanngeorgenstadt als verschwindende Stadt. Eine historische und geographische Mikrologie des Verlustes“ tauchen nun Historikerinnen und Historiker der Technischen Universität Chemnitz und Sozialgeographinnen und Sozialgeographen der Friedrich-Schiller-Universität Jena tief in die Geschichte der Stadt im Erzgebirge ein. Dieses Projekt unter der Leitung von PD Dr. Manuel Schramm vom Institut für Europäische Studien und Geschichts¬wissen¬schaften der TU Chemnitz und Jun.-Prof. Dr. Simon Runkel von der Universität Jena setzt sich interdisziplinär insbesondere mit Erinnerungskulturen und Verlustbearbeitung in Johanngeorgenstadt auseinander. Es wird von der Gerda Henkel Stiftung im Rahmen des Förderschwerpunktes „Verlorene Städte“ gefördert.
Der Niedergang Johanngeorgenstadts hatte vor allem wirtschaftliche Ursachen: Neben dem Rückgang des Bergbaus gerieten im Zuge der Vereinigung mit der Bundesrepublik auch andere Branchen wie die Textil- und Möbelindustrie in die Krise. Eine Herausforderung zur Erschließung neuer Wirtschaftszweige wie dem Tourismus ist das Stadtbild, das in den Jahren des Bergbaus zerstört worden war. Der Abriss der Altstadt lastet als Hypothek auf der Stadt. Den kreativen Umgang der Einwohnerinnen und Einwohner mit diesem Verlust zu erforschen, ist das Ziel des auf drei Jahre angelegten Forschungsprojektes. Wie gingen die Bewohnerinnen und Bewohner mit dem Verlust der materiellen Erinnerungsorte um? Führte der Verlust der Altstadt zur Abwanderung in den Westen oder in andere Teile der DDR? Welche Auswirkungen hatte und hat er auf lokale Biographien und Praktiken? Gibt es Bewältigungsstrategien im Umgang mit einschneidenden Verlusterfahrungen und welche Faktoren begünstigen sie?
In zwei Teilprojekten analysieren die Forscherinnen und Forscher, welchen Effekt der Abriss der Altstadt für die kulturelle und soziale Identität der Stadt bis heute hat: Der geschichtswissenschaftliche Teil nimmt den Wandel der lokalen Wahrnehmungs-, Wissens- und Erinnerungskultur sowie den Umgang der Behörden mit Umsiedelungen und Protesten in den Blick. Im sozialgeographischen Teil wird anhand von Biographien und lebensweltlichen Erfahrungen die gegenwärtige geteilte Atmosphäre des Verlusts und die damit verbundenen Praktiken der Bewohnerinnen und Bewohner mit ihnen gemeinsam erforscht.
So wird eine „Mikrologie des Verlusts“ entstehen, die das situative Zusammenspiel historischer, geographischer, kultureller und gesellschaftlicher Faktoren auf engem Raum analysiert und zu einem besseren Verständnis von „lost cities“ beitragen soll. Die Ergebnisse des Projekts werden auf zwei Workshops vorgestellt und unter anderem in einer Monografie veröffentlicht. Es ist geplant, im Rahmen einer Zukunftswerkstatt neue Perspektiven für Johanngeorgenstadt vor Ort mit der lokalen Bevölkerung zu diskutieren und deren Anliegen Gehör zu verschaffen.
Weitere Informationen erteilt Dr. Manuel Schramm, Institut für Europäische Studien und Geschichtswissenschaften der TUC, E-Mail manuel.schramm@phil.tu-chemnitz.de.