Ist auch die Gaststätte verschwunden – der über 100 Jahre alte Stammtisch steht eisern und verbindet eine Männerrunde.
Frankenberg. Ja, er steht noch, der alte Stammtisch der Gaststätte Lützelhöhe. Ist auch das legendäre Gasthaus längst aus der Kneipenlandschaft von Frankenberg verschwunden, hat das Möbelstück eine neue Lokalität gefunden und zugleich seine Funktion behalten: Regelmäßig Treffpunkt einer generationenübergreifenden Männerrunde zu bleiben. Die vereinte sich jetzt an einem der angestammten Freitage aus gutem Grund an dem betagten Utensil: „Vor 100 Jahren hatte mein Ur-Großvater Hermann Berger die Gaststätte als Besitzer übernommen, da stand das Teil schon seit 1909“, erzählt Thomas Plötz, aus der einstigen Gastwirtfamilie. „Das Exemplar ziert jetzt unseren Partykeller, es ist eines der wenigen Ausrüstungsteile, die wir mit der Schließung 2011 und dem Abriss des Saales als ein Stück der Gaststättengeschichte aufbewahren können“, sagt der Dachdecker, der sich mit Holzbauten und Tischsitten gut auskennt.
„Am 2. Weihnachtsfeiertag vor sieben Jahren hatte das Gasthaus nach 93 Jahren in Familienbesitz und seinerzeit von Pächterfamilie Evelin Behring geführt, letztmals seine Türen geöffnet, freitags davor war die finale Stammtischsitzung. Einige Gläser, Schilder und ein Garderobenständer bewahren wir weiter auf, dazu ungezählte Zeitdokumente, wie Bilder“, so Thomas Plötz.
Reichlich 20 Stammgäste der Lützelhöhe schwelgten jetzt zur traditionellen Weihnachtsfeier in Erinnerungen an das Traditionshaus, ihrer einstigen Heimstatt. Das freitägliche Stell-Dich-Ein sei für Frankenberger Männer ein Pflichttermin gewesen, erinnert sich die Runde lachend. Nicht nur die in benachbarter AWG wohnenden Herren verabschiedeten sich bei den Ehefrauen: Man müsse nochmal ins „Plenum“. „Der Stammtisch war immer umringt, ja es gab sogar Wartezeiten, bis man einen festen Stuhl in der Runde ergattern konnte“, erinnern sich Peter Kunze und Klaus Bauer. Und da verstanden die Alteingesessenen keinen Spaß, wurde der mal von einem anderen beansprucht. Angesichts der Nachfrage habe man sogar einen Juniorenstammtisch begründet. So manches Original der Stadt manifestierte an dieser Stätte seinen Ruf, etwa Eddy oder der Schwarze Hans, Fracke oder der Drei F.
Den Start ins Wochenende vollzogen Maler, Fleischer, Kfz-Monteur, Schmied aber auch der Lehrer oder Angestellte in der Lützelhöhe-Runde. „Da waren alle Berufsgruppen und Funktionen an einem Tisch. Und das einvernehmlich. Klar wurde über Land und Leute, natürlich die Politik und Mangelwirtschaft gesprochen, erstaunlicher Weise blieben kritischste Meinungen folgenlos, der Raum verwahrte das Gesagte. Gerade zu diesen Zusammenkünften klärten die Beteiligten, was seinerzeit untereinander benötigt wurde“, blickt Frank Kretzschmar zurück. Der, ebenso wie sein Vater Waidmann und von diesem eingeführt, hatte wie immer sein Waldhorn mitgebracht und begleitete die obligatorische Gesangsrunde, bei der natürlich auch das Feierabendlied erklang.
„Gesungen wurde immer, so gut, dass manchmal andere Gäste des Hauses glaubten, wir seien ein Männerchor, der probte“, denkt Winfried Hacker amüsiert zurück. „Regelmäßig wurde Bierlachs gespielt. Da war es nicht verwunderlich, dass der Wirt den Stammleuten den Schlüssel überließ, weil er nicht bis 4 Uhr morgens mit deren Kartenspiel frönen wollte“, verweist Thomas Plötz auf das gegenseitige Vertrauen. Lange Zeit sei das heimische Gaisbergbier ausgeschenkt worden, dass Glas für 0,43 Pfennig der DDR-Währung. Die Luft aus dem Tabakmix von Caro oder Cabinet sei zum Zerschneiden gewesen, der Rauchabzug habe Hochtouren gedreht, sei doch den Nebelschwaden nur schwer Herr geworden.
„Und es blühte der Flachs. Da wurde einem, dem Gerstensaft gut zugesprochenem Mitstreiter schon Mal nachts der Dedronbeutel mit Schnee gefüllt. Zu Hause in dessen Garderobe aufgehangen, sorgte die Wasserlache morgens für Staunen bei Mann und Ehefrau“, erzählt Henry Morgenstern von heiteren Erlebnissen. Er selbst habe einst für Gesprächsstoff gesorgt, weil er nach einem feucht-fröhlichem Tanzschwof mit zwei Säcken an den Füßen den Heimweg angetreten habe. „Die neuen Schuhe anzuziehen, war damals ein Fehler“, gesteht er lachend. Er erinnert, dass ein Kumpel, nachdem er die Zeche längst bezahlt hatte, wieder zurückgekehrt sei mit der Feststellung: „Bei mir zu Hause brennt noch Licht.“ Guter Grund, der Ehefrau aus den Augen zu gehen.
Einhellig lob die Runde die Küche des Hauses, berühmt für die Kirmes im Herbst und Wildwochen im Frühjahr. „Manch höherprozentiges wurde ausgeschenkt“, erinnert sich Manfred Behring. „Zur Lützelhöhe gehörte die mit rohem Eigelb und Pfeffer samt Worcestersauce präparierte Prärieauster oder die Wolke, ein Mocca Edel mit Kaffeesahne“, zur letzten Pächterfamilie des Hauses zählend. „Legendär blieben das Nikolaschka-Getränk mit Kaffeepulver und Zucker auf einer Zitronenscheibe oder der Koks, ein edles Gesöff mit Weinbrand, Zuckerwürfel und Kaffeebohne.“
Noch heute ist die Runde vom vertrauten Miteinander bestimmt. „Zwischen 50 und 80 Jahren alt, kommen die Männer, um sich auszusprechen, Ortsgeschichte weiterzugeben. Hier wird besprochen, was einem auf der Seele liegt“, sagt Thomas Plötz. Selbst die reifere Jugend verstehe sich nun auf Whatsapp, denn per Netzwerk würden die Treffen terminiert. „Der Freitag bleibt angestammter Termin, wenngleich wir uns das Jahr über auch in zwei anderen Gaststätten der Stadt treffen. Der Partykeller erlebt die Höhepunkte.“
Indes trifft sich die Runde nicht zum Bier allein. „Da zählt für den Juniorenstammtisch, dessen jüngster 47 Jahre alt ist, der Ausflug mit Familie regelmäßig zu den Aktionen, wie unterschiedlichste Ausfahrten mit Kind und Kegel stattfinden“, gehört Mike Juhnke zu diesen Organisatoren. Und noch immer fand auch die jüngste Begegnung mit dem obligatorischen Schlussritual ihr Ende: „Auf Wiedersehen in Rostock, in der Hafenbar“, jener Evergreen der DDR-Fernsehsendung Glock 8, Achtern Strom wurde inbrünstig intoniert.